Kinderärzte und die Beurteilung der Sprachentwicklung

bearbeitet 10. 11. 2014, 14:36 in Sprachentwicklung
http://www.aerztlichepraxis.de/artikel_ ... 244541.htm
Pädiater sind oft die ersten Ansprechpartner bei Kindern mit gestörter Sprachentwicklung

Der lange Weg zur Muttersprache
Meist sind Pädiater die ersten Ansprechpartner für Eltern, die bei ihren Sprösslingen eine Störung oder Verzögerung der Sprachentwicklung vermuten. Da sie die Kinder außerdem bei den Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig sehen, ist es wichtig, dass sie eine sich abzeichnende Sprachstörung frühzeitig erkennen.
22.08.06 - Eine differenzierte logopädische Untersuchung ist in jedem Fall indiziert bei:

- Stagnation der Entwicklung
- entsprechenden Hinweisen vonseiten der Eltern
- sprachlichen Rückständen von mehr als sechs Monaten.

Entwicklungsvariabilität oder Pathologie?
Bei der Beurteilung von Symptomen kindlicher Sprachstörungen muss im Einzelfall entschieden werden, ob das auffällige sprachliche Verhalten dem Alter des Kindes entspricht oder zeitlich beziehungsweise strukturell von physiologischen
Entwicklungsschritten abweicht. Die Beurteilung orientiert sich an entwicklungspsychologischen und psycholinguistischen Modellen, die zur Erklärung des normalen und gestörten Spracherwerbs zur Verfügung stehen. Danach muss nicht allein die quantitative Ausprägung eines sprachlichen Merkmals in Abhängigkeit vom Alter betrachtet werden (zum Beispiel wie viele Laute oder grammatische Strukturen das Kind mit drei Jahren beherrscht), sondern zusätzlich ein qualitativ beschreibbares Störungsprofil.

So kann der produktive Wortschatz mit Hilfe eines standardisierten Testverfahrens mit den Durchschnittswerten der Altersgruppe verglichen und als eingeschränkt quantifiziert werden. Um dabei aber eine tatsächliche lexikalische Erwerbsstörung von einem grenzwertig geringen Wortschatz zu unterscheiden (beispielsweise durch zu geringe Ansprache des Kindes durch die Eltern), müssen qualitative Kriterien herangezogen werden, wie:

- Komposition des Wortschatzes
- Bedeutungsaufbau und Bedeutungsbeziehungen (Verständnis für Gegensätze, Oberbegriffe et cetera)
- phonologische Repräsentationen (zum Beispiel Unterscheidung zwischen ähnlichen Worten wie Kanne-Tanne)
- lexikalischer Zugriff (Wortfindung).

Entsprechend kann die Aussprache eines Kindes mit Hilfe von Bildbenennverfahren systematisch hinsichtlich der korrekt oder falsch produzierten Laute beschrieben werden. Der Lauterwerb erfolgt in der Regel in bestimmten Entwicklungsphasen des Kindes (siehe ÄP-HINTERGRUND). Der Bezug zum Alter reicht aber differenzialdiagnostisch nicht aus, um eine vorliegende Störung qualitativ zu beschreiben. Hier ist eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Kinderarzt und Logopäde wünschenswert. Der Logopäde wird bei entsprechendem Verdacht neben dem phonetischen und phonemischen Inventar die physiologischen und die pathologischen phonologischen Prozesse bestimmen, um die Aussprachestörung näher zu klassifizieren.

Primäre Sprachentwicklungsstörungen
Gibt es keine eruierbare Ursache für die Sprachentwicklungsstörung, spricht man von einer primären oder spezifischen Sprachentwicklungsstörung (sSES). Die Prävalenz der sSES wird mit sechs bis acht Prozent aller Kinder angegeben, wobei genetische Faktoren von großer Bedeutung sein dürften. Kinder mit einer sSES beginnen spät zu sprechen, erwerben ihren frühen Wortschatz verlangsamt und zeigen mehr produktive als rezeptive Schwierigkeiten. Im Verlauf der Entwicklung treten die phonologischen und grammatischen Störungen stärker zutage. Nach dem dritten Lebensjahr sind ohne Therapie keine Aufholeffekte mehr zu beobachten.

Spezifische Sprachentwicklungsstörungen können im Alter von drei Jahren auf der Grundlage von Testverfahren verlässlich diagnostiziert werden. Die Diagnose setzt voraus, dass andere Erkrankungen oder Schädigungen als Ursache bereits ausgeschlossen werden konnten. Um Kinder zu erfassen, die besonders gefährdet sind, dient in erster Linie die "50-Worte-Marke": Bis zum Abschluss des zweiten Lebensjahres sollte das Kind mindestens 50 Worte beherrschen. Elternfragebögen zum aktiven und passiven Wortschatz des Kindes können helfen, einen Überblick zu bekommen. Die Eltern dieser Kinder sollten ausführlich beraten und Entwicklungsfortschritte in sechsmonatigen Abständen kontrolliert werden.

Sekundäre Sprachentwicklungsstörungen
Im Gegensatz dazu ist von sekundären Sprachentwicklungsstörungen die Rede, wenn die Störung der Sprachentwicklung als Folge einer anderen Störung auftritt, beispielsweise aufgrund von Behinderungen des Hörens oder Sehens, autistischen Störungen, neurologischen Schädigungen oder mentaler Retardierung. Bei jedem Verdacht auf Sprachentwicklungsverzögerung muss die Überprüfung des Hörens an erster Stelle der Diagnostik stehen.

Aussprachestörungen
Aussprachestörungen betreffen die Lautebene von Sprache und wurden früher als Dyslalien bezeichnet. Dazu zählen:

- fehlerhaft gebildete Laute
- Vereinfachungen
- Auslassungen
- Lautersetzungen (beispielsweise "Tetterdeüst" statt "Klettergerüst").

Nach dem aktuellen psycholinguistischen Forschungsstand wird darüber
hinaus unterschieden zwischen sprachsystematischen Störungen der Lautebene (phonologische Störungen), bei denen das Kind nicht in der Lage ist, die verschiedenen Laute - die isoliert korrekt gebildet werden können - rezeptiv zu unterscheiden und korrekt im Wort zu kombinieren. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei phonetischen Störungen um periphere Störungen der sprechmotorischen Ausführung; die Lautbildung selbst ist dabei nicht korrekt. Diese Unterscheidung ist jedoch nur durch gezielte Prüfverfahren, nicht aber durch eine orientierende Einschätzung der Spontansprache möglich.

Phonetische Störungen betreffen im Deutschen überwiegend die Zischlaute, am häufigsten ist das Lispeln. Dabei werden die Laute meist interdental (mit der Zunge zwischen den Zähnen) oder auch addental (die Zunge stößt an die Zähne an) gebildet. Phonetische Störungen treten häufig auf, gelten aber als milde Form der Aussprachestörung, wenn sie nicht mit einer schweren myofunktionellen Störung verbunden sind. Bei deutlichem Störungsbewusstsein und entsprechend hoher Motivation von Kind und Eltern ist eine Behandlung vor der Einschulung oder nach dem Frontzahnwechsel indiziert.

Liegt eine phonologische Störung vor, ist eine logopädische Abklärung zur Klassifikation der Subgruppe mit unterschiedlichen Interventionen sinnvoll. Handelt es sich um eine phonologische Verzögerung (etwa Wortvereinfachungen oder Lautauslassungen), ist eine Beratung der Eltern sowie eine Kontrolle nach sechs Monaten sinnvoll, wenn die Verzögerung nicht mehr als sechs Monate beträgt. Bei konsequenten oder inkonsequenten phonologischen Störungen ist eine spontane Verbesserung ohne Behandlung hingegen nicht zu erwarten.
Die Rolle der Eltern
Ohne den Kontext sozialer und kommunikativer Interaktionen können Kinder Sprache nicht erwerben. Dabei wirkt der Sprachinput nicht global auf den Spracherwerb. Vielmehr stehen bestimmte Merkmale im Sprachstil der Eltern mit
umschriebenen Bereichen der Sprachentwicklung des Kindes in Verbindung. Beispielsweise korreliert der Anteil mütterlicher Äußerungen, die Äußerungen des Kindes erweitern, mit dem Gebrauch grammatischer Formen und der mittleren Äußerungslänge des Kindes. Dabei sind die Merkmale im Sprachinput gerade dann förderlich, wenn das Kind eben beginnt, die entsprechende sprachliche Form zu entwickeln. Entscheidend ist also die genaue Passung zwischen Entwicklungsstand und Sprachangebot.

Es herrscht Übereinstimmung in der Literatur, dass die soziale Umwelt für die Entstehung spezifischer Sprachentwicklungsstörungen nicht kausal ist. Die Entfaltung sprachlicher Fähigkeiten beruht auf der Grundlage der genetischen Prädisposition. Sie wird jedoch durch Quantität und Qualität des sprachlichen und kognitiven Angebots vor allem in den ersten drei Lebensjahren beeinflusst. Die Ansprache von Bezugspersonen hat dabei nicht primär eine sprachlehrende, sondern eine affektive und auch sozioemotionale Funktion.

Eltern brauchen daher zunächst Aufklärung über den spezifischen Charakter der Sprachstörung ihres Kindes. Dies ist die Grundlage dafür, sprachförderliche Ansätze im Verhalten der Eltern zu stärken und auszubauen, ohne die emotionale Beziehung zum Kind zu stören.


Zur Person:
Dr. Monika Rausch
Päsidentin des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie e. V.
Augustinusstr. 11a
50226 Frechen
http://www.dbl-ev.de

Kommentare

  • bearbeitet 30. 11. -1, 01:00
    Vielen Dank für den Artikel!
  • bearbeitet 30. 11. -1, 01:00
    bitte ;-)
  • bearbeitet 30. 11. -1, 01:00
    Hallo,

    vielen Dank für eure Antworten. :sunny:
    Seit ein paar Tagen gehe ich auch relaxter damit um. Anfangs habe ich ihn blöderweise ermahnt und ich meine sogar das er "sch" nicht so häufig benutzt.
    Abwarten und Tee trinken:)

    Liebe Grüße
    Nebelspur
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