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Jedes dritte Kind kommt in Deutschland per Kaiserschnitt zur Welt. Ein möglicher Grund: Kliniken verdienen an der Entbindung mit Messer und Nadel besser als an einer natürlichen. Das erklärt aber nicht, warum es in Sachen Kaiserschnitt ein deutliches West-Ost Gefälle gibt.
Wie schön kann doch gebären sein: Eltern und Ärzte legen gemeinsam den Termin für die Entbindung fest; die gefürchtete Fahrt im Krankenwagen ganz allein und mitten in der Nacht entfallt, das Warten auf die nächste Wehe, die Stunden unter Höllenschmerzen auch. Stattdessen: Ist Ihnen Freitag 15 Uhr recht? Durchschnittlich 60 Minuten später ist die Sache vorbei, die Frau hatte keine Schmerzen, für das Kind war der Kaiserschnitt sowieso sicherer; und bei der Mutter bleibt der Beckenboden unversehrt.
Attraktiv in Umständen: Bilder einer Schwangerschaft
Ist Deutschland "too posh to push"(zu fein zum Pressen) - wie man in englischsprachigen Ländern mit Blick die scheinbar unkomplizierten Kaiserschnitt-Geburten von Promi-Beautys sagt? Klar ist: Es werden immer häufiger Kaiserschnitte durchgeführt. Aus den Daten ihrer rund 14 Millionen Versicherten analysierte die BKK, dass in den beiden ersten Quartalen 2008 rund 32 Prozent der insgesamt 68.000 Geburten durch Kaiserschnitt (in der Sprache der Mediziner: sectio caesarea) zustande kamen. Im Vergleich dazu: 1991 lag die Sectiorate noch bei rund 15 Prozent, 2002 waren es 24 Prozent.
Neben der hohen Zahl an Kaiserschnitten insgesamt, ist auch das Ergebnis der Verteilung auf die Länder interessant: Im Saarland kamen beispielsweise in 40 Prozent aller Fälle Kinder durch eine Sectio auf die Welt, in Sachsen hingegen nur in 22. Generell kann man ein West-Ost Gefälle bei der Kaiserschnittrate beobachten. Hat das mit einer unterschiedlichen Einstellung der Frauen in Ost und West zu tun?
Nur wenige Frauen wünschen sich einen Kaiserschnitt
Zunächst einmal: Es ist ein großer Irrglaube, dass die Mehrzahl der Kaiserschnitt-Frauen schon lange vor der Geburt beschlossen hat, ihr Kind auf diesem Weg zur Welt zu bringen.
In einer Studie der Universität Osnabrück mit 366 Erstgebärenden ohne Risiken gaben gerade einmal 3,8 Prozent der Frauen vor der Geburt eine Präferenz für eine Sectio an. Auch Klaus Vetter, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Vivantes Klinikum Neukölln und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe "kann nicht nachvollziehen, dass Wunschsectios zugenommen haben".
Seiner Ansicht nach leitet sich der Trend zum Kaiserschnitt eher von Faktoren wie dem vermehrten Auftreten von Übergewicht, dem zunehmenden Gewicht der Kinder zum Geburtstermin und dem Alter der Mütter bei ihrer ersten Geburt ab. "25 Prozent der Erstgebärenden in Berlin sind 35 Jahre und älter", so Vetter. In diesem Alter stiegen nicht nur die Risikofaktoren, sondern auch die Wahrscheinlichkeit für Mehrlingsgeburten. Mit dem Alter lässt sich auch - zumindest teilweise - erklären, warum es in Ostdeutschland weniger Kaiserschnitte gibt: Einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Demographische Forschung zufolge waren von den Frauen des Jahrgangs 1972 im Alter von 27 Jahren 62 Prozent im Westen, aber nur 50 Prozent im Osten kinderlos. Das heißt: Im Osten der Republik sind die erstgebärenden Mütter jünger als im Westen. Daneben gibt es zu der Frage Spekulationen über ein anderes - natürlicheres - Sexualverhalten sowie eine andere Sozialstruktur.
Unsicherheit schafft Angst und die macht manipulierbar
In den einschlägigen Internetforen jedenfalls findet sich ein wichtiger Aspekt über alle Grenzen hinweg: Viele Frauen haben vor der Geburt große Angst und sind unsicher. Hilferufe wie der von "Leyla", 28, sind typisch: "Hallo ihr Lieben. Mensch, jetzt bin ich gradmal erst in der 22.SSW und steigere mich total rein in meine Panik vor der Geburt. Hinzu kommt, dass ich mich nicht entscheiden kann ob ich eine spontane Geburt oder 'nen geplanten Kaiserschnitt machen soll?? Ich weiß, dass ich das selbst entscheiden muss, aber es muss doch Vor- und Nachteile geben, die man abwägen kann, oder?" In diesem, wie in vielen anderen Fällen scheinen die Frauen von ihren Gynäkologen nicht ausrechend - wenn überhaupt - beraten zu werden. In der Geburtssituation fühlen sie sich dann oft ausgeliefert. Eine Untersuchung unter Versicherten der Gmündener Ersatzkasse hatte schon 2006 ergeben, dass nach ihrer Kaiserschnitt-Geburt befragte Frauen als Grund für die Sectio zum überwiegenden Teil (60 Prozent) den Rat ihres Arztes angaben.
Kaiserschnitt lohnt sich für die Krankenhäuser
Dass manche Ärzte bei solchen Unsicherheiten eher zu einem Kaiserschnitt raten, dürfte auch mit der Kostensituation zu tun haben: Die Pauschale für einen Kaiserschnitt liegt nach Angaben des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherungen bei durchschnittlich 2600 Euro und spült damit rund doppelt so viel Geld in die Kassen der Krankenhäuser wie eine vaginale Geburt - und das bei minimalem Zeitaufwand und arbeitszeitfreundlicher Kalkulierbarkeit. Zudem gibt es in Deutschland zwar viele Klagen gegen Krankenhäuser, weil ein scheinbar notwendiger Kaiserschnitt nicht eingeleitet wurde; kaum aber wegen Geburtsschäden nach dem Eingriff.
Trotzdem: Auch der Kaiserschnitt ist kein Spaziergang; die psychischen Folgen für Frauen können schwerwiegend sein. "Meine Erfahrung ist - und dazu gibt es auch wissenschaftliche Belege - , dass die traumatische Erfahrung einer Kaiserschnitt-Geburt umso stärker ist, je mehr sich die Frauen während der Geburt ausgeliefert fühlen", sagt Katrin Mikolitch, Ärztin und Gründerin des Kaiserschnitt-Netzwerkes. Selbst aus medizinischer Sicht birgt der Kaiserschnitt - entgegen allen Hochglanz-Vorurteilen - Risiken.
Die Risiken des Eingriffs
Kaiserschnittkinder leiden kurz nach der Geburt häufiger unter Sauerstoffmangel. Die Schmerzen sind für die Mutter oft schlimmer als nach einer Vaginalgeburt. Die Sectio reduziert nicht das Risiko einer Inkontinenz, die durch die Überdehnung der Beckenbodenmuskulatur ausgelöst werden kann. Dass Frauen, die auf natürlichem Wege entbunden haben, klagen häufiger über eine "ausgeleierte Scheide" klagen ist ein Mythos. Und: Wie bei jeder Operation können Thrombosen, Narkoseprobleme und Infektionen auftreten.
Dennoch bleibt es die persönliche Entscheidung jeder Frau, wie sie gebärt. "Die Geburt ist ein Spiegel der Biographie", so Mikolitch. "Es gibt zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen der eigenen Geburt und der Art und Weise, wie man sein Kind auf die Welt bringt." Ihrer Ansicht nach werden die Kaiserschnitt-Raten in den nächsten Jahren weiter ansteigen - dann aber wieder zurück gehen. "Den Kindern fehlt ein wichtiger Entwicklungsschritt", sagt sie. Kaiserschnittbabys müssten sich mit einer ganz anderen Geburtserfahrung auseinandersetzen als vaginal geborene Kinder. Noch wisse man nicht genau, welche Langzeitfolgen das haben kann.
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