Es war mitten im August und unerträglich heiß und ich hatte wirklich so gar keine Lust mehr auf meinen schweren Kugelbauch - anders als beim ersten Mal hatte ich mit quirligem Kleinkind an der Seite und so einigen Zipperlein diesmal die Schwangerschaft als ziemlich anstrengende Zeit empfunden und hoffte deshalb eindringlich, nicht wieder so weit über den Termin zu gehen wie beim ersten Mal (da waren es 10 Tage, und ich bangte schon um meine geplante Hausgeburt).
Der ET verging, nichts tat sich, aber am Nachmittag im Gespräch mit meiner Hebamme kristallisierte sich heraus, dass ich auch innerlich noch nicht ganz loslassen konnte - zum einen, weil ich meinen Mann in den vergangenen Tagen kaum gesehen hatte, weil er vor der Geburt noch ganz viel auf der Arbeit erledigen wollte, um dann die zwei Vätermonate ganz genießen zu können. Zum anderen, weil ich Sorge hatte, wie es mit der Betreuung unserer Großen laufen würde. Zwar hatten meine Eltern sich eigens eine Ferienwohnung in der Nähe gemietet, in der sie bereits eingezogen waren, aber irgendwie hatte ich Angst, die Geburt würde in Linneas Schlafenszeit fallen und sie würde nicht damit zurecht kommen, das erste Mal irgendwo ohne Mama oder Papa zu schlafen.
Also einigten wir uns darauf, dass mein Mann für den nächsten Tag Urlaub nehmen würde, um ganz für mich da zu sein und dass meine große Tochter in der Nacht eine "Probe-Übernachtung" in der Ferienwohnung bei meinen Eltern machen würde. Sie war auch gleich ganz begeistert von dem Vorschlag und zog mit Köfferchen und Stillkissen im Gepäck davon. Eine Stunde später rief meine Mutter an, sie schliefe tief und fest.
Mein Mann und ich beschlossen, unseren ersten - und vorerst auch wieder letzten - "kinderfreien Abend" bei uns zuhause seit Linneas Geburt so richtig zu genießen. Ich habe gebadet, wir haben uns zusammen einen schönen Film angeguckt, lecker gekocht, auf dem Sofa gesessen, erzählt, gelacht, gekuschelt. Es war richtig romantisch, und immer wieder sagten wir: Ach, wie schön, wenn du jetzt rauskommen würdest, kleine Maus. Ich richtete den Wickeltisch her, legte einen Strampler raus wie einen Willkommensgruß, dann gingen wir ins Bett.
Gegen halb drei Uhr nachts wachte ich auf, weil ich Flüssigkeit an meinen Beinen spürte, aber keine Wehen. Ich stand ganz in Ruhe auf und machte den Lackmustest, der aber - warum auch immer - negativ war. Also ging ich von schwangerschaftsbedingter Blasenschwäche aus und wieder ins Bett. Um kurz vor drei spürte ich ein erstes leichtes Ziehen im Bauch und war ganz hoffnungsvoll, aber auch ungläubig: Waren das wirkliche Wehen oder nur eingebildete, weil ich mir so sehr wünschte, dass es endlich losgehen sollte? Ich kuschelte mich an meinen Mann und wartete ab. Nach etwa 10 Minuten: Wieder ein ziehen. Ich kriegte Herzklopfen. Kuschelte mich an meinen Mann und wartete die nächste Wehe ab, die tatsächlich schon leicht schmerzhaft war, so dass ich ganz vorsichtig und leise anfing, sie zu veratmen. Nach drei weiteren Wehen weckte ich vorsichtig meinen Mann. Wir veratmeten noch weitere zwei Wehen aneinandergekuschelt im Bett, dann standen wir gemütlich auf und setzten uns in meinem Arbeitszimmer auf unser altes Sofa, auf (opder besser: vor) dem auch schon Linnea geboren worden war. Wir sprachen freudig und aufgeregt darüber, wie wir die kommenden Stunden Eröffnungswehen herumkriegen sollten, mein Mann schlug vor, Musik anzumachen, ich überlegte, ob wir vielleicht noch einen Film anschauen könnten. Um unsere Hausgeburtskiste mit Plastikplanen und dem Plakat für die Wohnungstür ("Keine Sorge, hier endet kein Leben, hier beginnt eins!") zu öffnen, war es jedenfalls noch viel zu früh, fanden wir, und die Hebamme wollten wir erst recht jetzt noch nicht anrufen, so mitten in der Nacht - schließlich meinten wir ja von der ersten Geburt zu wissen, dass noch mindestens 10 Stunden vor uns lagen. Und während wir so redeten wurden die Wehen auf einmal sehr schnell sehr heftig. Mein Versuch, eine im Vierfüßlerstand zu veratmen, scheiterte kläglich und auf einmal hatte ich das Gefühl, doch meine Hebamme anrufen zu wollen - vielleicht fünf Minuten waren seit dem Sinneswandel vergangen. Mein Mann guckte etwas verdutzt ("Aber wir hatten doch gerade besprochen ..."), reichte mir aber natürlich das Telefon. Als die Hebamme dran war erzählte ich in Seelenruhe, dass wir Linnea bei meinen Eltern untergebracht hatten und dass ich vielleicht einen Blasensprung gehabt hätte, vielleicht aber auch nicht, weil sich das Lackmuspapier nicht verfärbt hatte - und dann musste ich unterbrechen, weil eine heftige Wehe kam, und ich reichte meinem Mann das Telefon und der wusste gar nicht, was er sagen sollte außer: "Eigentlich hatten wir uns gerade drauf geeinigt, dich noch nicht anzurufen ..." Aber unsere Hebamme meinte, als sie mich während der Wehe hörte, sei ihr gleich klar gewesen, dass das nicht mehr lange gehen würde. "Ich komme!" Weg war sie, später erzählte sie uns, dass sie sich selbst das Zähneputzen verkniffen hätte und sofort ins Auto gesprungen sei. Ich war froh, sie unterwegs zu wissen, denn mit einem Schlag fast waren die Wehen unmenschlich heftig geworden, heftiger als ich sie von der gesamten ersten Geburt kannte, und ich dachte nur: Wie soll ich das noch einige Stunden überstehen? Die Hebamme rief von unterwegs an: "Kocht schon mal Kaffee". Wir dachten, sie sei nochmüde, sie dachte an den Dammschutz, den wir bald brauchen würden. Als mein Mann in die Küche gehen wollte, flehte ich ihn an, er solle da bleiben. Mittlerweile war es 20 vor 4 Uhr nachts, ich hatte noch keine Stunde Wehen, war fix und fertig von den Schmerzen, die Wehen jagten einander nun und mein Mann versuchte mir Mut zu machen: "Vielleicht geht es beim zweiten Mal ein bisschen schneller und wir haben sie schon gegen sieben, dann können wir gleich frühstücken."
Dann, auf einmal, spürte ich einen unbändigen Drang zu Schieben. "Es kann ja eigentlich nicht sein, aber ... ich bilde mir gerade ein, ich habe Presswehen", stammelte ich. Ich warf mich rücklings aufs Sofa und schrie wie eine Wilde. Die nächsten 10 Minuten hätten original einem abgedrehten Film entsprungen sein können. "Ich sehe Blut", sagte mein Mann. Und kurz darauf: "Oh mein Gott, ich sehe den Kopf." Panisch rief er die Hebamme auf dem Handy an: "Der Kopf! Ich sehe den Kopf!" - "Dann fang es auf!", rief sie nur. Mein Mann stellte das Telefon auf Lautsprecher und legte es neben uns, meine Hebamme versuchte uns noch per Telefon Tipps zu geben, aber ich verstand nichts, weil ich so laut schrie. Ich war wie von Sinnen und konnte nur noch brüllen und schieben, und mein Mann war der beste Geburtshelfer der Welt: Hielt meine Hand, beruhigte mich, legte die Hand auf Annikas Köpfchen, damit sie nicht zu schnell rauskommen sollte, dass der Damm heil bleibt (das hatte er noch aus dem Geburtsvorbereitungskurs behalten - irre, oder?). In dieser surrealen Atmosphäre wurde unsere zweite Tochter geboren, mein Mann, der klassische Ich-kann-kein-Blut-sehen-und-bleibe-nur-am-Kopfende-Typ, nahm sie in Empfang und legte sie mir auf den Bauch, wo ich sie erst mal aus der Nabelschnur wickelte. Mein Mann deckte sie mit Handtüchern zu, und ich legte sie gleich an die Brust. Dann hörten wir unsere Hebamme am Telefon: Ich steh jetzt vor der Tür - ist alles geschafft? Kann ich klingeln? Das konnte sie, und als mein Mann ihr aufmachte, sagte sie: "Na, ihr Tollen! Klasse habt ihr das gemacht!"
Inzwischen war es 4 Uhr, knapp eine Stunde nach Wehenbeginn.
Dann folgte das übliche: Apgar-Test, Mini-Riss nähen, messen und wiegen (4 Kilo, 57 Zentimeter, was für ein Riesenkind!). Mein Mann saß blass und mit zitternden Händen dabei, realisierte erst langsam, was gerade passiert war und was er und ich soeben zu zweit gemeistert hatten.
Annika bekam eine Windel an und wurde in ein dickes Handtuch gepuckt und zu uns in die Mitte gelegt, und dann verabschiedete sich die Hebamme und wir schliefen weiter bis zum nächsten Morgen als sei in den knapp zwei Stunden Wachsein dazwischen nicht viel geschehen - und dabei war doch unser wunderbares zweites Kind geboren worden!
Am nächsten Tag kam dann die stolze große Schwester zum Gucken und gemeinsamen Kuscheln im Familienbett, und es war wunderschön. Das Stillen klappte diesmal von Anfang an schmerzfrei.
Mein Mann und ich hatten noch eine Weile zu Knabbern an der Heftigkeit dieser Naturgewalt, die uns da so schnell überfallen hatte, dass wir sie ohne Hilfe meistern mussten, die ganzen Vorstellungen davon, wie unsere zweite Hausgeburt laufen sollte, hatte Annika über den Haufen geworfen (wir waren nicht einmal dazu gekommen, unser Schild noch aufzuhängen). Aber am Ende steht ein wunderbares kleines Mädchen und das gute Gefühl, es ein zweites Mal geschafft zu haben, mein Kind in einer selbstbestimmten, natürlichen Geburt zu Hause zur Welt zu bringen.
Kommentare
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Schöner Name :biggrin:
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... und herzlichen Glückwunsch noch nachträglich zur Geburt. :859tiu:
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Nachträglich noch herzlichen Glückwunsch
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Ich dachte, nur mir ginge es mal wieder so... :cool:
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Ich sitz hier gerade und lache und weine gleichzeitig. :shock: :biggrin:
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So eine beeindruckende Geburt. Wow
Und Repekt Deinem Mann, wo Du ja erwähntest, dass er kein Blut sehen kann. (Dir natürlich auch!!!)
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herzlichen Glückwunsch auch von mir! Mir kamen doch tatsächlich die Tränen...
VG, Schnuffili21
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Klasse habt ihr das gemeistert!! Herzlichen Glückwunsch im Nachhinein.
Und vielen, vielen Dank, dass du dies für uns hier eingestellt hast!!
Ich freue mich gerade über jeden Hausgeburtsbericht, den ich lesen kann und hoffe, selber bald einen beitragen zu können. ;-)
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Ich auch. Richtig ergreifend. Herzlichen Glückwunsch und toll, wie ihr das gemeistert habt.
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Herzlichen Glückwunsch!
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:hija:
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Die Geburt UND der Bericht!
Herzlichen Glückwunsch zur Tochter und zum tollen Geburtserlebnis.
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Das habt ihr wirklich toll gemacht,das ist etwas ganz besonnderes.
Danke das ihr uns daran teilnehmen lassen habt,denn der Bericht liest sich so.
Alles gute für euch. code[fun52.gif]
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Es war wirklich ein unvergessliches und sehr schönes Erlebnis. Beim nächsten Mal würde ich allerdings bei der ersten Wehe die Hebamme anrufen.
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Wünsch euch ein schönen kennenlernen.
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Ich dachte übrigens auch, sowas passiert nur im Film ...
Liebe Grüße,
Nora
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Du siehst nicht aus, als ob Du erst gerade geboren hättest. Wirklich schön!
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Ich liebe an diesem Foto den stolzen Blick von Linnea. So sieht eine richtige große Schwester aus, finde ich.
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Darf ich fragen wieso du dich für die Hausgeburt entschieden hast?