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Die neuen Checklisten für das Ungeborene
Zwei neue Gentests kommen auf den Markt, die es Eltern erlauben, mehr über eigene genetische Risiken und über chromosomale Anomalien des Fötus zu erfahren. Spezialisten, die Paare beraten könnten, sind jedoch knapp.
Von Esther Lilienweiss
Ultraschall ist nur eine von vielen Möglichkeiten der PränataldiagnostikUltraschall ist nur eine von vielen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik
27. Juli 2011
Mit dem Bundestagsentscheid schien die Debatte über die Präimplantationsdiagnostik zunächst beendet. Doch kaum ist dieser vorläufige Schlussstrich gezogen, melden sich die deutschen Humangenetiker zu Wort. Die gesamte Diskussion sei „eine Gespensterdebatte“ gewesen, konstatiert jetzt etwa Peter Propping, der langjährige Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Bonn. Längst seien ganz andere Techniken auf dem Weg, die Paare mit Kinderwunsch und werdende Eltern schon bald vor neue Herausforderungen stellen würden, schrieb Propping jüngst in der Online-Ausgabe des Magazins „Spektrum der Wissenschaft“.
Ein Bluttest zeigt, ob eine Trisomie 21 beim Kind vorliegt
Insbesondere zwei Verfahren werden demnächst kommerziell erhältlich sein: ein Bluttest für Schwangere, der Aufschluss darüber gibt, ob bei dem ungeborenen Kind eine Trisomie 21 vorliegt, und eine genetische Untersuchung beider Eltern vor Eintritt der Schwangerschaft, die es erlaubt festzustellen, ob das Erbgut von Mutter und Vater Anlagen für bestimmte Krankheiten aufweist. Mit den neuen Methoden sieht die Ärzteschaft nun eine Welle von Beratungsbedürftigen auf sich zurollen. „Es besteht ein gigantischer Aufklärungs- und Beratungsbedarf“, sagt Jörg Schmidtke, Direktor des Instituts für Humangenetik an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Brisant wird die Situation durch das 2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz. Es knüpft eine vorgeburtliche Risikoabklärung - auch die schon bisher üblichen invasiven vorgeburtlichen Untersuchungen - an das Angebot einer humangenetischen Beratung. Die im Fachgebiet Humangenetik qualifizierten Ärzte, die diese Beratungen übernehmen könnten, fehlen jedoch. Schmidtke beschrieb diesen Mangel unlängst online in der Zeitschrift „Medizinische Genetik“ (Bd. 23, S. 26), wo er darauf hinwies, dass die Schere zwischen Diagnostik und Beratung schon seit Jahrzehnten klafft.
Noch darf jeder Arzt beraten
Mit den neuen Verfahren werde die Situation jetzt rasant verschärft, sagt André Reis, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik. „Die Vorschriften des Gesetzgebers darüber, wie die nötigen Kapazitäten rekrutiert werden sollen, sind leider nicht geglückt“, sagt Reis.
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Noch ist laut Gendiagnostikgesetz jeder Arzt berechtigt, die Patienten zu beraten - eine Verlegenheitslösung. Doch damit ist bald Schluss. Denn zum 1. Februar 2012 steht eine neue Regelung ins Haus. Möchte ein Frauenarzt, der nicht auch Facharzt für Humangenetik ist, seine Patientinnen auch in Zukunft genetisch beraten, muss er Fortbildungskurse belegen und dies zu Beginn des kommenden Jahres auch nachweisen. „Das ist ein Versuch, den seit Jahren bekannten Mangel an Fachärzten für Humangenetik über Fortbildungsmaßnahmen aufzufangen“, sagt Schmidtke.
„Schnellkurse sind keine Lösung“
Im Moment sind in Deutschland nach Angaben der Bundesärztekammer nur 524 humangenetisch ausgebildete Ärzte tätig. Dazu gehören Fachärzte für Humangenetik und Ärzte, die eine Zusatzbezeichnung „Medizinische Genetik“ erworben haben. Dass der Mangel durch die „nur fortgebildeten“ Ärzte qualitativ aufgefangen werden kann, bezweifelt André Reis. „Die Fortbildungsregelung ist der unglückliche Versuch, Qualität und Quantität auf die Schnelle zu kombinieren“, sagt Reis. „Mit Schnellkursen ist diese Problem aber nicht zu lösen. Wir brauchen dringend mehr Weiterbildungsstellen für Humangenetiker, denn der Bedarf an komplizierten Beratungen wird sich erhöhen.“
Vor allem der sogenannte Heterozygotentest ist in seiner Komplexität geeignet, Eltern zu verwirren und zu verunsichern. Der Test ermittelt, ob eine Person Träger für die Anlagen bestimmter erblicher Krankheiten ist, an denen sie selber nicht leidet, die sie aber weitergeben kann. Diesen Zustand bezeichnet man als heterozygot. Stellt sich bei einem Elternpaar heraus, dass beide bezüglich einer bestimmten Krankheit zufällig die gleiche genetische Konstellation aufweisen, wird ihr Nachwuchs mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent erkranken.
In zwei bis drei Jahren ist das Verfahren einsetzbar
Mit den Eltern muss dann etwa erörtert werden, welche Krankheiten die Firmen in einem Test zusammengefasst haben, ob diese für die individuelle Fragestellung relevant sind und ob das Paar wirklich über den Anlageträgerstatus aller getesteten Erkrankungen Informationen haben möchte. Das Verfahren werde schon in zwei bis drei Jahren für viele hundert Krankheiten einsetzbar sein, mutmaßt Peter Propping.
Der zweite Test wird voraussichtlich noch in diesem Jahr auf den Markt kommen. Mit dem sogenannten „Nicht-invasiven pränatalen Diagnostiktest zur Bestimmung von Trisomie 21“ wird fötales Erbgut, das via Plazenta in den mütterlichen Blutkreislauf geraten ist, auf das Vorliegen eines Down-Syndroms untersucht. Um das Erbmaterial des Ungeborenen zu gewinnen, ist es lediglich notwendig, der Mutter Blut abzunehmen - ohne jegliches Risiko für das Ungeborene.
Das neue Verfahren ist risikofrei für das Ungeborene
Bisher war es üblich, die Bauchdecke der Mutter mit einer Nadel zu durchstoßen und eine Punktion der Fruchtblase vorzunehmen, um fötales Erbgut für die Untersuchung auf chromosomale Anomalien zu gewinnen. Das ist für den Föten nicht ganz ungefährlich. In 0,5 bis einem Prozent der Fälle kommt es zu einer Fehlgeburt - derzeit noch für viele werdende Eltern ein Grund zur Sorge und auch zum Verzicht auf die Fruchtwasseruntersuchung. Dementsprechend groß ist das Interesse an dem neuen, risikofreien Verfahren.
„Patientinnen aus ganz Deutschland rufen an, um sich zu erkundigen, ob es diesen Test schon gibt“, sagt etwa Markus Stumm vom Berliner „Zentrum für Pränataldiagnostik - Kudamm 199“. Seine Einrichtung hat im April eine Ankündigung auf ihre Homepage gestellt, in der es heißt: „In absehbarer Zeit könnte der neuartige Trisomie-21-Test eine risikolose Alternative zu den derzeit angewandten invasiven Untersuchungen, zum Beispiel der Fruchtwasseruntersuchung, sein.“ Stumms Zentrum nimmt an einer multizentrischen Teststudie in Zusammenarbeit mit dem Testanbieter Lifecodexx teil. Optimistisch prognostiziert die Firma die Markteinführung zum Ende des Jahres. In Zukunft sollen auch Trisomien anderer Chromosomen, etwa die Trisomie 13 und 18, aufgespürt werden können.
Die Gesellschaft muss umfassend vorbereitet werden
„Jeder sollte wissen, dass es diese Methoden gibt, und sie verstehen“, sagt Peter Propping. Er fordert, die Gesellschaft umfassend auf die kommenden Möglichkeiten vorzubereiten. Denn auch wenn tatsächlich ein Risiko oder eine Erkrankung festgestellt wird, stehen wieder Entscheidungen an. Ein Paar etwa, das über eine Anlage für eine bestimmte Erkrankung informiert ist, kann auf Kinder verzichten, trotz des Risikos eine Schwangerschaft ohne weitere Diagnostik planen, den Weg einer klassischen Pränataldiagnostik gehen oder, falls eine schwerwiegende Krankheit zu erwarten ist, neuerdings eine Präimplantationsdiagnostik wählen.
Angesichts dieser komplexen Fragen erscheint die Regelung im Gendiagnostikgesetz vielen Humangenetikern nicht angemessen. André Reis ist der Ansicht, dass die vorgesehenen Kurse nicht ausreichend seien. Vorgeschrieben sind beispielsweise für den prädiktiven Heterozygotentest 72 Fortbildungseinheiten. „Die Ärzte sind danach nur oberflächlich ausgebildet“, sagt Reis. Der Vorsitzende der Gesellschaft für Humangenetik hält deshalb eine Novellierung des Gendiagnostikgesetzes für notwendig.
Text: F.A.Z.
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