Entschärfte Kalorienbomben
Energieangaben für Lebensmittel könnten laut neuen Studien teilweise wertlos sein. Zahlreiche Speisen sind offenbar weit weniger kalorienreich, als bislang vermutet.
Von Kathrin Burger
Nüsse und Mandeln geben Schokolade und Kuchen Biss und Geschmack - doch um ihren Ruf steht es nicht zum Besten. Sie gelten als Dickmacher, schließlich liefern sie allerhand Fett und damit auch viele Kalorien. Doch nun legen immer mehr Studien nahe, dass Nüsse, Mandeln und Pistazien ihr Image als Kalorienbomben unberechtigterweise anhängt.
So hat etwa Janet Novotny, Ernährungswissenschaftlerin am US-Landwirtschaftsministerium USDA, kürzlich aufgedeckt, dass Mandeln nicht sechs Kilokalorien pro Gramm enthalten, wie in vielen Kalorientabellen zu lesen ist, sondern nur rund 4,6 kcal. Das entspricht einer Überschätzung des Kaloriengehalts von immerhin rund 30 Prozent.
Wie viel Energie in einem Lebensmittel steckt, wird seit mehr als 100 Jahren mit der gleichen Methode kalkuliert. Der amerikanische Chemiker Wilbur Olin Atwater hat um 1900 mehrere in Lebensmitteln enthaltene Nährstoffe wie Fette oder Proteine in einem sogenannten Bombenkalorimeter verbrannt.
Dieser abgedichtete, aber hitzedurchlässige Container ist von Wasser umgeben. Nach der Verbrennung wird gemessen, um wie viel Grad sich das Wasser erhitzt hat. Dies lässt auf den Brennwert, also den Energiegehalt schließen.
Laut Atwater und seinen Berechnungen haben Eiweiße und Kohlenhydrate im Schnitt je vier Kilokalorien pro Gramm, Fette hingegen neun und Alkohol sieben. Dabei spielt es der Atwater-Methode zufolge keine Rolle, in welchem Lebensmittel die Nährstoffe stecken. Es wird also nicht berücksichtigt, wie sich die einzelnen Nährstoffe tatsächlich im einzelnen Lebensmittel und im Verdauungssystem des Menschen verhalten.
Die Wissenschaftlerin Novotny hat dagegen neun gesunden Erwachsenen knapp drei Wochen eine mit Mandeln angereicherte Kost verschrieben, während neun weitere Probanden sich ohne Mandeln ernährten. An einigen Tagen gaben die Probanden zusätzlich Stuhl-, Urin- und Blutproben ab. Anhand der Abbauprodukte der Nährstoffe in den Proben rekonstruierte die Forscherin, wie viel Energie der Körper tatsächlich aus den Mandeln bezogen hat.
Bereits im Januar hatte Novotny Ähnliches für Pistazien nachgewiesen. Hier lag der von Novotny ermittelte Kaloriengehalt jedoch nur um sechs Prozent unter dem bislang geltenden Wert.
"Vermutlich sind einige Nährstoffe, vor allem das Fett, so in den Nusszellen eingeschlossen, dass sie in Magen und Darm gar nicht vom Körper aufgenommen, sondern schlichtweg ausgeschieden werden", meint Martin Wickham vom britischen Forschungsinstitut Leatherhead Food Research. Nüsse werden häufig nicht sehr lange gekaut. So gelangen sie als Brocken ins Verdauungssystem, die nicht mehr viel zur Energiebilanz des Snacks beitragen.
Eine Studie aus dem Jahr 2004 belegt, dass sich nach einer Mandelmahlzeit im Stuhl der Probanden noch intakte Kotyledon-Zellen fanden, die vollgestopft mit Fett und anderen Nährstoffen waren. Als Kotyledon oder Keimblatt bezeichnet man das Blatt eines Pflanzenembryos. Bereits im Jahr 1980 hatten Forscher gezeigt, dass Erdnüsse als Ganzes die wenigsten Kalorien liefern im Vergleich zu verarbeiteten Produkten wie Erdnussbutter oder Erdnussöl.
Diese Funde könnten auch erklären, warum Nussfans meistens nicht mehr Kilos auf die Waage bringen als Nuss-Verächter, schreibt Novotny in ihrer Studie. Im Gegenteil: Einige Studien zeigten sogar, dass Probanden, die Nüsse anstelle von kohlenhydratreichen Lebensmitteln wie Kartoffeln oder Brot im Rahmen einer Diät aßen, mehr Kilos verloren als die Kontrollgruppe.
Der Faktor Zubereitung
Aber auch Kochen verändert die Textur eines Lebensmittels. Zellwände brechen auf, und sonst eingesperrte Nährstoffe werden für den Körper verfügbar. Eine gekochte Karotte oder gegartes Fleisch liefert darum zumindest Mäusen mehr Kalorien als die rohen Varianten, hat die Harvard-Anthropologin Rachel Carmody kürzlich in einer Tierstudie aufgedeckt.
Zudem wird bei der Verdauung ungegarter Lebensmittel mehr Energie verbraucht als bei gekochten Speisen - auch das berücksichtigt die Atwater-Methode nicht. "Vor allem ballaststoffreiche Lebensmittel, Gemüse und Hülsenfrüchte, aber auch Eiweißreiches könnte in seinem Kaloriengehalt darum überschätzt werden", meint der britische Ernährungsexperte Geoffrey Livesey, der unter anderem die EU-Kommission berät. Da wundert es nicht, dass Menschen, die sich ausschließlich von Rohkost ernähren, oft stark untergewichtig sind, wie eine Studie der Universität Gießen im Jahr 1999 bestätigte.
Auch die Konsistenz, also wie weich oder fest ein Lebensmittel ist, spielt eine Rolle. Für die Verdauung von einem Hamburger-Brötchen verbrennt der Körper selber viel weniger Energie als bei der Aufspaltung faserreicher Körnerbrote. Im Jahr 2007 hat eine Studie der neuseeländischen Massey University unter Leitung von Geoffrey Livesey ergeben, dass Probanden, die sich ballaststoffreich ernährten, in Wirklichkeit rund 18 Prozent weniger Kalorien zu sich nahmen, als die Tabellen das vorgaben. Letztlich arbeitet auch jeder Organismus etwas anders. "Je nachdem wie effizient Darmmikroben die Ballaststoffe aufspalten, tragen diese mehr oder weniger zur Kalorienbilanz einer Mahlzeit bei", sagt Carmody.
Zahlreiche Kaloriengehalte, die in seriösen Datentabellen wie dem Fachbuch "Souci, Fachmann, Kraut" oder auf verpackten Lebensmitteln angegeben werden müssen, basieren jedoch auf den Atwater-Faktoren - und könnten daher zum Teil falsch sein. Dahinter stecken auch pragmatische Gründe. "Eine mögliche Über- bzw. Unterschätzung des tatsächlichen Energiegehalts einzelner Lebensmittel wird zugunsten einer praktikablen Anwendung toleriert", sagt Bernd Hartmann, Ökotrophologe am Max-Rubner-Institut.
Doch mit den Novotny-Studien formt sich Widerstand. So plädiert der Brite Wickham für eine Reform der Kalorienberechnung. Auch Hartmann hält es für sinnvoll, alternative Berechnungswege zu überprüfen: "Bei ausreichender Studienlage sollten diese als europäischer Standard umgesetzt werden."
Allerdings wäre eine solche Revision sehr arbeitsaufwendig. Der Ernährungsexperte Geoffrey plädiert für einen einfacheren Weg: Er will lediglich die Atwater-Faktoren modernisieren. So sollten Proteine nur mit drei statt vier Kalorien pro Gramm versehen werden, während Ballaststoffe statt zwei nur 1,5 Kalorien zur Bilanz beisteuerten. Ballaststoffe werden erst seit Kurzem in einigen Datenbanken mitgerechnet - zuvor waren ihr Brennwert schlicht ignoriert worden.
Lobbygruppen der Ernährungsindustrie sind auch schon aktiv geworden. So hat das Almond Board of California aufgrund der Novotny-Studie die Lebensmittelbehörde FDA dazu aufgerufen, die Kaloriengehalte für Mandeln in der USDA Nutrient Laboratory Database nach unten zu korrigieren
Quelle: Süddeutsche.de
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